Gesamtkunstwerk für Augen und Ohren
Bedächtig schreitet er durch die Räume, öffnet Flügeltüren mit sanftem Druck. Unter den Absätzen seiner Schuhe knarzen Eichenholzdielen. Ein offenes Doppelfenster schickt Wind und Licht herein; Sonnenstrahlen bringen die schwarzen Locken zum Glänzen. In seinem Kopf – Harmonien. In der Hand ein Stock, er zeichnet Takte in die Luft. Er wirft die Schöße seines Rockes zurück, setzt sich ans Klavier – und Felix spielt. So oder so ähnlich könnte es sich zugetragen haben in den Räumen des Mendelssohn-Hauses in Leipzig um 1845. Hier lebte sein berühmter Bewohner Felix Mendelssohn Bartholdy mit seiner Familie. Heute befindet sich am selben Ort ein Museum, das Mendelssohn-Haus Leipzig. Auf drei Etagen sind hier Leben und Werk des genialen Komponisten, Dirigenten und Pianisten erlebbar. Wobei: Die zweite Etage ist der Komponistin Fanny Hensel, der älteren (und musikalisch ebenfalls sehr begabten) Schwester von Felix, gewidmet. In der Ausstellung offenbaren erhaltene Briefe die berührende zwischenmenschliche Beziehung der Geschwister. Ein weiterer bedeutsamer Teil der Ausstellung widmet sich dem langjährigen Gewandhauskapellmeister Kurt Masur, der durch sein musikalisches, aber auch sein zivilgesellschaftliches Wirken vor allem in der Zeit der friedlichen Revolution, zu einer herausragenden Persönlichkeit der Leipziger Stadtgeschichte wurde. Aus einer leidenschaftlichen Wertschätzung für Mendelssohns Leben und Werk heraus avancierte Kurt Masur zum Wegbereiter des heutigen Mendelssohn-Hauses.
„Hier wohnte ein Weltstar.“
Doch der Reihe nach. Die erste Etage ist die Belétage des Hauses. „Hier ist die Zeit stehen geblieben“, schwärmt Patrick Schmeing, Direktor des Mendelssohn-Hauses. „Der Geist Mendelssohns und der Zeitgeist des Biedermeiers ist in den Wohnräumen bewahrt.“ Durch drei historisch original rekonstruierte Räume, vorbei an Möbeln, die einst auch der große Komponist benutzte und an Gegenständen, die er selbst in der Hand hatte – zu diesem Spaziergang lädt Schmeing die Besucher ein. „Alles wirkt so, als wäre Felix Mendelssohn Bartholdy nur mal kurz Brötchen holen.“
Man merkt Patrick Schmeing seine Begeisterung für das musikalische Universalgenie an: „Hier wohnte ein Weltstar. Als Mendelssohn Bartholdy diese Räume bewohnte, war er auf dem Höhepunkt seiner Karriere.“ Im 19. Jahrhundert war Leipzig neben Wien eine der wichtigsten Musikmetropolen Europas. „Von Mendelssohns musikalischem Genius ging eine europaweite Strahlkraft aus“, betont Schmeing. „Zeit seines Lebens überwand sein Schaffen geografische Horizonte. Und über seinen Tod hinaus überdauern seine Werke die Zeit – erklingen und wirken nach, in der endlosen Bewunderung von Musizierenden und Zuhörern.“ Und noch etwas beeindruckt Patrick Schmeing: Mendelsohns vielen Talente: „Er war Komponist und Dirigent, Zeichner und Maler, vor allem aber ein Europäer der ersten Stunde, der sich in London oder Berlin genauso beheimatet fühlte wie in Leipzig.“
Die Räume im Mendelssohn-Haus bezog Felix mit seiner Familie 1845. Dort gab sich die musikalische Prominenz des 19. Jahrhunderts die Ehre. Richard Wagner war hier zu Besuch und auch Robert und Clara Schumann nahmen auf den feinen Möbeln Platz. Hier komponierte Mendelssohn das Oratorium „Elias“, das 1846 uraufgeführt wurde. Hier verarbeitete er aber auch die Trauer um seine plötzlich verstorbene Schwester Fanny, die in dem bewegenden „Requiem für Fanny“ musikalischen Ausdruck fand. Am 4. November 1847, im selben Jahr wie seine Schwester, stirbt Felix Mendelssohn Bartholdy hier in seiner
Leipziger Wohnung.
Einmal selbst den Taktstock schwingen
Im Erdgeschoss bietet sich den Besuchern ein ganz besonderes Erlebnis: das Effektorium – ein „Fest für die Sinne“, frohlockt Patrick Schmeing. Die Wände sind mit eleganten Vorhängen umhüllt, und ein farbig-gedämmtes Lichtspiel fließt durch den Raum, in dem 13 Stelen aufgestellt sind. Vor diesen steht ein Dirigentenpult. Von hier aus kann jeder Besucher selbst den Taktstock schwingen. Je nachdem, welches Stück ausgewählt wird, verwandeln sich die Stelen zu Instrumentengruppen, die vom dirigierenden Besucher zum Leben erweckt werden können. Wie wirkt sich das Tempo auf die Musik aus? Ob rasant oder gemächlich, von largo bis presto – im Effektorium gibt es die hörbare Antwort, ein beeindruckender akustischer Spielplatz. Und ganz nebenbei erfährt man, dass Mendelssohn einer der ersten Dirigenten war, die einen Taktstock benutzten.
Einen schönen Ort hat sich Felix Mendelssohn Bartholdy damals als Refugium erwählt. Zu den stilvollen, gemütlichen Innenräumen ist der dazugehörige Garten das schöne Pendant im Freien. Im Gartenhaus finden regelmäßig Sonderausstellungen statt. Aktuell über Cécile Mendelssohn Bartholdy „Die unbekannte Schöne“. Es ist der Geist des Ortes, die Persönlichkeit eines großen Komponisten und seiner Werke, die das Haus in der Goldschmidtstraße 12 in Leipzig beseelen. Im Moment, in dem Musik erklingt, werden Vergangenheit und Gegenwart zeitlos, verlieren sich im Eindruck, den Klang und Harmonien erschaffen. Ein Gefühl davon wird jeden Sonntag um 11.00 Uhr im Musiksalon erzeugt, in dem in historischer Atmosphäre eine Sonntagsmatinée stattfindet. Zurecht betont Patrick Schmeing, dass „das Mendelssohn-Haus nicht nur ein Museum ist. Es ist auch ein wunderbarer Konzertort und Musiksalon.“ Der jährliche Veranstaltungskalender ist gut gefüllt. Ein fester Termin ist der 4. November, der Todestag des Komponisten, an dem jedes Jahr die Mendelssohn-Festtage stattfinden. Darüber hinaus legt Patrick Schmeing Besuchern besonders den Leipziger Klaviersommer sowie die Veranstaltungen im Rahmen des Bachfestes ans Herz. Das Mendelssohn-Haus in Leipzig – ein berührend schöner, ein historisch spürbarer, ein musikalisch tragender – und vor allem ein lebendiger Ort.