Erste Hilfe für die Seele
Frau Stellmacher, was genau macht das Kriseninterventionsteam?
Bei unerwarteten schicksalhaften Ereignissen wie einem plötzlichen Todesfall, einer erfolglosen Reanimation, Suiziden, Gewalterfahrungen, Vermisstensituationen, Verkehrs-, Schienen- und Arbeitsunfällen sowie größeren Schadensereignissen stehen wir den Angehörigen oder anderen Betroffenen in den ersten Stunden zur Seite. Wir leisten sozusagen Erste Hilfe für die Seele.
Seit wann engagieren Sie sich ehrenamtlich in diesem Verein und warum?
Ich habe vor vielen Jahren eine nebenberufliche Ausbildung zur Psychotherapeutischen Heilpraktikerin abgeschlossen, hatte aber das Gefühl, dass mir noch wichtiges Wissen fehlt. 2014 ließ ich mich daher beim KIT Leipzig e.V. als Kriseninterventionsberaterin ausbilden. Und dort fand ich dann ein Ehrenamt, das ich eigentlich gar nicht gesucht hatte. Die Sinnhaftigkeit dieser Arbeit hat mich sofort überzeugt, und sie tut es bis heute.
Viele von uns haben Berührungsängste mit Themen wie Trauer, Verlust, Verzweiflung. Sie sprechen von Sinnhaftigkeit. Was motiviert Sie, sich diesen Themen, diesen Ängsten immer wieder aufs Neue zu stellen?
Wenn wir vor Ort eintreffen, erleben wir oft eine Situation, in der das Leben zum Stillstand gebracht wurde. Die Menschen, zu denen wir gerufen werden, befinden sich in einem psychischen und/oder physischen Zustand, den sie oft allein nicht bewältigen können. Wir nennen das eine akute Belastungsreaktion. Am Ereignis selbst können wird dann zwar nichts ändern, aber wir begleiten unsere Klienten aus diesem Schock, dieser Starre langsam wieder heraus. Und wenn sie sich nach Stunden wieder stabilisiert haben und handlungsfähiger sind, bekommen wir oft einen
sehr, sehr tief empfundenen Dank zu spüren. Das motiviert mich, denn ich habe das Gefühl, meine Lebenszeit wirklich gut investiert zu haben.
Niemand sollte im Fall von Schicksalsschlägen allein gelassen werden. Dafür gibt es staatliche Angebote und kommunale Anlaufstellen. Warum, denken Sie, braucht es dennoch Vereine wie das KIT? Welche „Lücke“ füllen Sie und Ihr Team?
Das KIT Leipzig ist kostenfrei und zu jeder Tages- und Nachtzeit immer erreichbar. Wir kommen innerhalb kurzer Zeit direkt nach Hause bzw. zum Ereignisort - dorthin, wo wir gebraucht werden. Und wir haben Zeit. Wir bleiben so lange, wie es vonnöten ist. Das können zwei, drei oder vier Stunden sein, manchmal aber auch deutlich mehr als das. Erst nach unserem Einsatz vermitteln wir unsere Klienten an die mittelfristigen oder langfristigen Nachsorgeangebote auf staatlicher und kommunaler Seite, aber auch an andere Vereine, die sich speziellen Indikationen oder besonderen
Betroffenen widmen, zum Beispiel trauernden Eltern, trauernden Kindern oder Geschwistern.
Haben Sie den Eindruck, dass in der Bevölkerung der Bedarf an psychologischer Unterstützung, an Seelsorge, an Unterstützung bei der Trauerbewältigung über die Jahre zugenommen hat?
Wenn ich auf unsere Einsatzzahlen schaue, ja. Bis 2020 wurden wir im Schnitt 150 bis 175 Mal pro Jahr alarmiert. Mittlerweile liegen wir bei 250 bis 275 Einsätzen jährlich.
Welches, würden Sie sagen, ist die wichtigste Fähigkeit, die es bei Ihrer Arbeit bedarf?
Ganz klar Empathie. Im Rahmen des Einsatzgeschehens müssen wir uns voll und ganz auf die Bedürfnisse der Klienten einlassen. Es geht nicht in erster Linie darum, alles mitzuteilen, was wir wissen, sondern sich selbst zurückzunehmen und ganz offen für die Befindlichkeiten unserer Klienten zu sein.
Nun noch ein paar persönliche Fragen. Sie sind gebürtige Leipzigerin. Leben und arbeiten Sie gern in Sachsen?
Ja, ich bin sehr verwurzelt in Leipzig. Ich habe zwar stets großes Fernweh, aber ich komme auch immer wieder gern nach Leipzig zurück.
Was schätzen sie an Ihrer Heimat, was schätzen Sie an den Sachsen?
Dass die Sachsen sehr offene und hilfsbereite Menschen sind.
Wenn Sie sich nach Ihrer oft sicher sehr fordernden Arbeit ausruhen möchten, wohin ziehen Sie sich zurück? Welchen Lieblingsort haben Sie?
My home is my castle. Wir wohnen am äußersten Rand von Leipzig, da ist es still und friedlich.
Es gibt viele Vorurteile über die Sachsen. Welches ärgert Sie persönlich am meisten?
Mich ärgert, dass wir Sachsen nur auf unseren Dialekt reduziert und dafür belächelt werden.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten für unser Land, welcher wäre das?
Mein Wunsch geht da über die sächsischen Grenzen hinaus. Mich beschäftigt im Rahmen meiner Vorstandstätigkeit und Ausbildungsleitung im KIT Leipzig, aber natürlich auch in meinen privaten Leben, der Generationenkonflikt zwischen den Boomern und der Generation Z. Ich wünsche mir da mehr wertschätzenden Austausch und die Bereitschaft zum Verstehen in beide Richtungen. Wir können voneinander viel lernen.
Frau Stellmacher, wir bedanken uns für das Gespräch. Und drücken die Daumen für den Deutschen Engagementpreis. Wer noch abstimmen möchte und seine Stimme für einen der vielen Vereine, die in Sachsen Gutes tun, kann dies noch bis zum 17. November 2024 hier tun.