Über Obstwiesen, florierende Gewerbegebiete und die Kirche im Dorf
Das Dorf der Zukunft sieht aus wie jedes Dorf – die Menschen denken dort nur anders. Ja, das ist eine vollmundige Behauptung. Aber wir haben dafür gute Gründe. Nehmen wir das Thema Landflucht: Woanders mag sie ein Problem sein, doch das Dorf, von dem wir sprechen, hat eher mit einem Mangel an Baugrundstücke zu kämpfen – weil so viele Menschen hinziehen wollen. Nur als Beispiel. Jedenfalls: Willkommen in Nebelschütz.
Die Fachwerkhäuser mit den gepflegten Gärten, der kleine Teich mit seinen Enten, die Obstbäume und die imposante Barockkirche auf dem kleinen Hügel wirken exakt so, wie sich ahnungslose Städter das Landleben vorstellen: beschaulich, etwas aus der Zeit gefallen und auf eine freundliche Weise sehr ruhig. Das ist Nebelschütz im östlichen Zipfel Sachsens, ein Idyll zwischen grünen Hügeln und Wäldern nahe der polnischen und der tschechischen Grenze. Schön ist es hier – aber alles andere als verschlafen. Um ihren Ort lebendig zu halten, haben die Nebelschützer viele Initiativen entwickelt, von der ökologischen Erneuerung über den Umbau einer Scheune zu Künstlerateliers bis zur Nutzung eines stillgelegten Steinbruchs, wo nun Kräuter gezüchtet werden und Bildhauer unter freiem Himmel an großen Skulpturen arbeiten.
Auch dank solcher Initiativen hat Nebelschütz die Umbrüche der vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte wesentlich besser überstanden als viele andere Dörfer. Der Gemeinde gelingt es sogar, sich der verbreiteten Landflucht zu widersetzen. Während andernorts in dünn besiedelten Landstrichen Kindergärten und letzte Geschäfte schließen, Häuser leer stehen, die Jungen wegziehen und der soziale Zusammenhalt erodiert, haben die Nebelschützer mit Gemeinsinn und einer selbstbewussten Kombination aus Bodenständigkeit und Aufgeschlossenheit ihr Dorf weiterentwickelt. Das Problem sind nicht leer stehende Häuser, sondern dass es zu wenige Grundstücke gibt für junge Leute, die hier bauen wollen.
Verschiedenste Kleinbetriebe sorgen für Arbeitsplätze: die Polstermöbelreparatur Scholze, der IT-Dienstleister radyserb net solutions, der Töpferhof Wěteńca und eine Bau- und Möbeltischlerei. In den Gewerbegebieten des Dorfes sind unter anderem ein Logistik- und Recycling-Unternehmen sowie Firmen für Metallbearbeitung, Brandschutz und Containerbau ansässig. Die Arbeitslosenquote liegt mit rund drei Prozent deutlich unter dem Landesdurchschnitt. Offenbar ist hier in den vergangenen 25 Jahren einiges richtig gemacht worden. Das bestätigen auch Auszeichnungen beim „Europäischen Dorferneuerungspreis“ oder dem bundesweiten Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“. Dessen Motto wird hier wirklich gelebt.
Gut für die Zukunft: Heimat
Mehr als nur einkaufen
Bei all den Initiativen, die sich der Bürgermeister und seine Mitstreiter ausdenken, geht es darum, den Bürgern Angebote für Engagement und zur Mitarbeit zu machen. Schließlich ist es ihr Dorf, und Gemeinsinn gedeiht nun mal am besten, wenn man etwas gemeinsam tut. Ein wichtiges Instrument dafür war ein Förderprogramm des Amtes für Ländliche Neuordnung, mit dem die Gemeinden Dorfentwicklungspläne erstellen sollten. Weil alle Bürger eingeladen waren, mitzudiskutieren, war der gemeinsame Prozess für Zschornak mindestens so wichtig wie das Ergebnis. „Unser Ziel war es, die Menschen zu fragen, was für ein Dorf sie wollen, und ein Gespräch darüber in Gang zu bringen“, sagt der Bürgermeister.
Thomas Zschornak ist Sorbe, wie die meisten Nebelschützer. Sorbisch ist zweite, vielleicht sogar erste Sprache im Ort. Auch das erklärt ein wenig seinen kämpferischen Lokalpatriotismus. Um Nebelschütz zu verstehen, findet er, muss man die Situation der Sorben kennen: Das kleine Volk wurde von den Deutschen lange diskriminiert und von den Nazis schikaniert, sorbische Politiker wurden sogar in Konzentrationslager verschleppt. Und in der DDR waren die Sorben eher geduldet als respektiert. Heute sprechen nur noch einige Tausend Menschen die Sprache. Für Zschornak geht es deshalb auch darum, das sorbische Selbstbewusstsein zu stärken. Die Arbeit für sein Dorf ist für ihn zugleich Arbeit an der sorbischen Identität.
Sehr gut für die Zukunft: Kinder
Tägliches Beisammensein
Hilfreich für die Zukunft: Stolz
Dass der Bürgermeister so stolz auf seinen Ort ist, hat auch damit zu tun, dass dessen Entwicklung alles andere als selbstverständlich war. Nach der Wende war Nebelschütz „ein graues Dorf ohne Gesicht und ohne eine Idee, wo es hinwill. Es war sehr verschlossen, die Außenwelt war weit weg“, erinnert sich Zschornak. In dieser Zeit verlor die Region außerdem viele Arbeitsplätze, weil die LPG-Großbetriebe von Agrar-Investoren übernommen und modernisiert wurden. Und natürlich ging es der Gemeindeverwaltung auch noch nicht um Gemeinsinn – sie hatte genug damit zu tun, für die Infrastruktur zu sorgen: Straßen, Abwasser, Telefon, Energie. Damals gründete die Stadt Wittichenau gemeinsam mit Nebelschütz und weiteren Gemeinden eine eigene Gesellschaft zur Versorgung mit Erdgas.
„Nach der Wende haben die Leute aufgehört, selber Kartoffeln oder Tomaten anzubauen, sie haben auch keine Hühner oder Enten mehr gehalten. Sie sind lieber zum Einkaufen in die Supermärkte gefahren – die Lebensmittel waren dort billig und schön verpackt“, erinnert sich der Bürgermeister. So wurden Dörfler zu Konsumenten. Viele Männer arbeiteten im Westen und pendelten. Das Dorfleben wurde trister. „Man hat in den Gärten selten Blumen gesehen, niemand wollte sich mit seinem Garten Arbeit machen“, sagt Zschornak. „Die Selbstversorgung und die damit verbundenen Tauschgeschäfte verschwanden.“
Autark aus Überzeugung
Notwendig für die Zukunft: Gründer
Ignaz Wessela weiß sehr genau, was ihm wichtig ist. „Unsere Aufgabe als erste Generation nach der Wende ist es, hier etwas Langfristiges aufzubauen, das sich über Jahre entwickeln kann. Natürlich kaufe ich auch Land, obwohl ich mir das eigentlich nicht leisten kann. Ich will meinen Kindern einen soliden landwirtschaftlichen Betrieb weitergeben können. Auch weil wir so ein kleines Volk sind, habe ich als junger Sorbe die Verpflichtung, für meine Leute da zu sein. Die Frage ist doch, was wirklich wichtig ist. Ein Smartphone? Das dicke Auto? Meiner Meinung nach gibt es nichts Wichtigeres als die Landwirtschaft und gute Lebensmittel.“
Während der Ausbildung hat Wessela ein Praktikum in einer großen Milchviehanlage mit rund 1000 Kühen gemacht. Spätestens seit dieser Zeit weiß er, dass konventionelle Landwirtschaft für ihn nicht infrage kommt. „Ich habe gesehen, wie viele Medikamente da eingesetzt werden und welche Krankheiten die Kühe haben. Die sind so hochgezüchtet, dass sie zum Teil nicht mal richtig laufen können, weil das Euter zu prall zwischen den Beinen hängt.“ Wessela rechnet vor, dass jeder konventionell bewirtschaftete Hektar jährlich Chemikalien für etwa 500 Euro benötigt. Und dabei wird es nicht bleiben: „Die Spritzmittel werden jedes Jahr teurer. Außerdem haben die Flächen in den vergangenen 50 Jahren durch die intensive Bewirtschaftung 50 bis 75 Prozent ihres Dauerhumus verloren. Wo stehen wir in 30 oder 50 Jahren, wenn wir so weitermachen?“
Der Jungbauer plant groß. Er will keine Klitsche betreiben, sondern ein modernes Unternehmen. Um konkurrenzfähig zu sein, muss er große Flächen bewirtschaften, am liebsten um die 200 Hektar. Nur so lassen sich ein gut ausgestatteter Maschinenpark und die intelligente Technik für den Ökolandbau finanzieren, etwa eine kameragesteuerte Hacke, die selbstständig und präzise zwischen den Ackerreihen hackt.
Wesselas Pachtland gehört der Gemeinde. Sie hat es gezielt gekauft, um es für ökologischen Landbau zur Verfügung zu stellen. An den Jungbauern hat sie es nicht nur verpachtet, weil er das Land ökologisch bebauen will, sondern auch, weil er aus der Region kommt und einen kleinen Betrieb gründen wollte. Die Kommunalaufsicht war von den Vorgängen irritiert, schließlich sei das keine kommunale Pflichtaufgabe, erzählt der Bürgermeister. Er habe es trotzdem gemacht. „Es ist für mich selbstverständlich, dass sich die Gemeinde um Themen wie ökologischen Landbau und Selbstversorgung kümmert.“
Nützlich für die Zukunft: Kunst und Kräuter
Raum für Kreative
Schön für die Zukunft: Störche
Bei einem der Gänge durch das Dorf bleibt der Bürgermeister mal wieder stehen. Diesmal zeigt er aber nicht auf ein Haus oder eine Steinskulptur, sondern auf ein Storchennest. Als sich wieder Störche ansiedelten, hat die Gemeindeverwaltung Feuchtbiotope geschaffen, damit die Tiere Nahrung finden und bleiben. „Störche gehören zum Dorf“, sagt Thomas Zschornak. Und als hätte er es gehört, fliegt ein Storch auf und dreht eine weite Runde am blauen, weiten Himmel über Nebelschütz.
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Text: Peter Laudenbach, Fotos: Antonina Gern
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